14. Marienberger Klausurgespräche, 13.–15. März 2008
2008 sind wir wieder einmal zu Wahlen aufgerufen; keine Nachricht mit sonderlichem Neuigkeitswert, wenngleich jene, ziemlich wahrscheinlich, wie immer als „Schicksalswahlen“ mit historischer Tiefendimension ausgerufen sein werden. In Wahrheit erinnern sie an die Zwiespältigkeit unseres modernen staatsbürgerlichen Daseins.
Staatsbürger im staatsrechtlichen Sinne sind wir abwegreich geworden; in politisch-sozialer Perspektive indes weitgehend Untertanen geblieben. So erblüht das Gemeinwesen zuvorderst als Inbegriff öffentlicher Ressourcen zum Zwecke des privaten Nutzens. Nach dem Motto: Was bekomme ich, nicht was gebe ich; und es nimmt der Industrielle, der Handwerker, der Networker, der Bauer, der Gastwirt, der Bürger samt dem jeweiligen weiblichen Pendant. Und als Steigerungsform: inklusive seines verbandsmäßig organisierten Interesses. Zweitens greift die Sozialbürokratie ungeniert in sozialstaatlicher Vormundschaft um sich: keine existenzielle Lage, die mittlerweile nicht entmündigend durch sie aufgefangen würde. Zwei gemeinschaftsragende wohlfahrtsstaatliche Grundtendenzen, die sich treffen im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“. Sie rufen nach ständigem Wirtschaftswachstum zur Befriedung aller ernsteren Daseinsfragen und nicht, wie es den Bürgern geziemen würde, auf zu Solidarität und Gerechtigkeit in wertgebundener Freiheit.
Es steht um den Gemeinsinn als dem gemeinsamen, uns „gemeinen“ Denken, das Gemeinsamkeit stiftet, nicht zum Besten in unserem Land. Ablesbar ist dies unter anderem im (un)heimlichen Wahlkampfauftakt der sich ausbreitenden Ausländerhetze in Südtirol. Propagandistisch wird in ihnen, den Ausländern – ohne die gar einige Wirtschaftszweige, vor allem die Versorgung unserer Alten und Pflegebedürftigen auf der Stelle zusammenbrechen würden -, der Urgrund der meisten unserer Ängste und Sorgen erkannt. Vorangetragen wird diese Denkungsart von politischen Vertretern aller Schattierungen. Ihre populistischen Parolen stoßen auf eine allgemeinere Stimmungslage in der Bevölkerung, die sich rasch zur Mehrheitsmeinung formieren kann. Aufgabe der Politik ist es jedoch – und nicht nur in dieser speziellen Frage – der Bevölkerung die volle Wahrheit zu sagen. Dazu gehört, dass das Mögliche, angemessen auf die sich rasch ändernden Lebensbedingungen zu reagieren, zu wenig war; es ist das Notwendige gefragt. Dazu braucht es neue Koalitionen zwischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik. Es braucht einen tragfähigen Gemeinsinn auf der Basis politischer und individueller Glaubwürdigkeit. Bleibende Träger hierfür sind die alten, aber nicht veralteten Tugenden der Europäischen Kulturgemeinschaft; Glaubwürdigkeit und Achtung des Nächsten zählen zu ihrem Kernbestand.
Dort wo gemeinsinniges Denken nicht mehr erblüht, gebildet wird, findet der Populismus seine Heimat, schrieben wir vor 10 Jahren zum Abschluss der Marienberger Klausurgespräche 1997, die der Frage nach dem Verbleib von Zivilcourage und Sozialengagement nachgingen. Wie damals lässt sich heute wiederholen: Was wir brauchen, sind Bürger im emphatischen Sinne, sind politische Vertreter, die in Achtung und Achtsamkeit ihrem Nächsten und Anderen begegnen – im Wissen, dass der Schein das Ganze zum Ausdruck bringt und dennoch darüber hinaus weist, in das Unverfügliche, das wir stets auch sind.
Um dies in Freiheit sein zu können, haben wir als „Staatsbürger“ und „Wirtschaftsbürger“ zu bestehen, die im Zeitalter der Globalisierung allemal auch „Weltbürger“ sind (O. Höffe). Sie nehmen ihre Welten in der „Ordnung des Herzens“ (R. de Monticelli) wahr. Sind Menschen, die sich ihres Hirns im menschlichen Gebrauch bedienen (G. Hüther). Ein Leben lang, bis in die letzte Stunde – im Wissen um diese besondere Verantwortung, menschlich zu sein im Denken, im Handeln.
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